31. Dezember 2006

Blinde Passagiere

Wenn Sie wüssten, wie schwierig es ist, kurz und knapp zu schreiben! Ein Riesenheer arbeitsloser Wörter wartet in meinem Kopf, und alle sind versessen darauf, verwendet zu werden. Bei der geringsten Möglichkeit springen sie hervor und bieten sich an. Sie drücken, schubsen und drängeln, und jedes will noch mit. Im Nu sieht der Satz aus wie ein überladenes Boot, das sich kaum über Wasser halten kann. Gelingt es mir, einige wieder hinauszuwerfen, versuchen sofort andere sich hereinzumogeln. Darin haben es manche Wörter zu wahrer Meisterschaft gebracht, besonders solche, die ja letztlich eigentlich nicht wirklich etwas bedeuten - sehen Sie: schon wieder! - die nichts bedeuten und deswegen überall hereinpassen.

18. Dezember 2006

Der frühe Vogel

Wenn Banausen englischsprachige Idiome ins Deutsche übertragen, verzapfen sie Sätze wie Der frühe Vogel fängt den Wurm - die klassisch-dilettantische Übersetzung der englischen Redewendung The early bird catches the worm (auf Deutsch: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst).

Was zum Geier ist denn ein früher Vogel? Das einzige, was ich mir unter einem frühen Vogel vorstellen kann, ist ein frühzeitlicher Urvogel, wie der Archaeopteryx. Der ist im Kontext des Sprichwortes aber nicht gemeint, sondern ein Vogel, der als erster am Wurm-Büfett eingetroffen ist, während seine Konkurrenten noch den Kopf unter's Gefieder stecken.

Wenn ein Vogel, der früh aufsteht, ein früher Vogel ist, ist dann ein Vogel, der schön singt, ein schöner Vogel?
Sind die deutschen Mallorca-Urlauber, die vor Morgengrauen aufstehen, um den Engländern die Liegestuhl-Plätze wegzuschnappen frühe Urlauber?

Der frühe Cézanne bedeutet doch auch nicht Cézanne am frühen Morgen beim Brötchen holen. Sondern damit ist des Malers frühe Schaffensperiode gemeint. Wenn aber ein Banause den Satz liest: "Der frühe Cézanne malte impressionistisch, der späte dagegen kubistisch", sagt er zu seiner Frau: "Du, Angelina, hier steht, der Cézanne malte morgens schöne Landschaften, gegen Abend dann immer Klötzchen."

15. Dezember 2006

Die Kunst, Recht zu behalten

Auf Seite eins des Tagesspiegels schreibt Harald Martenstein unter der Überschrift Arm oder zynisch? folgende Sätze:
"Das Leben ist ungerecht - auch so ein zynischer, aber leider wahrer Satz. Die Versuche, dem Leben seine Ungerechtigkeit restlos auszutreiben, haben allerdings immer in der Tyrannei geendet."
Und ich Trottel habe heute der Nonne, die um Spenden für eine Suppenküche bat, zwei Euro gegeben! Harald Martenstein dagegen hätte richtig gehandelt. Er hätte ihr die Sammelbüchse aus der Hand geschlagen und sie angeschrien: "Tyrannin!"

Was H. Martenstein hier abliefert, ist ein freches Beispiel für den Kunstgriff 13 aus Arthur Schopenhauers Argumentationsanleitung Die Kunst, Recht zu behalten. Schopenhauer schreibt dort:
"Um zu machen, daß er einen Satz annimmt," (Das Leben ist ungerecht)
"müssen wir das Gegenteil dazu geben und ihm die Wahl lassen, und dies Gegenteil recht grell aussprechen," (Die Versuche, dem Leben seine Ungerechtigkeit restlos auszutreiben, haben allerdings immer in der Tyrannei geendet)
"so daß er, um nicht paradox zu sein, in unsern Satz eingehen muß, der ganz probabel dagegen aussieht."
H. Martenstein kennt aber noch weitere Kunstgriffe. Im nächsten Absatz liest man:
"Die Nichtzyniker rufen dann immer: Nehmt es den Reichen! Nehmt es Ackermann! Sicher, Manager-, Popstar- und Fußballereinkommen sind absurd hoch. Interessanterweise möchte aber auch von den Nichtzynikern fast niemand in einer Gesellschaft leben, in der alle das Gleiche verdienen und in der sie, die Nichtzyniker, keinerlei Chance auf Aufstieg, vielleicht sogar auf Reichtum besitzen."
Wer fordert, den Reichen müssten die Steuern erhöht werden, dem unterstellt Martenstein ganz unverschämt, er wolle, dass alle das Gleiche verdienen und es keine Chancen auf Aufstieg gibt, obwohl das sicher niemand gefordert hat. Das ist ein Beispiel für Schopenhauers Kunstgriff 24:
"Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind, hingegen absurd oder gefährlich sind: da es nun scheint, daß aus seinem Satze solche Sätze, die entweder sich selbst oder anerkannten Wahrheiten widersprechen, hervorgehn; so gilt dies für eine indirekte Widerlegung..."
Dass H. Martenstein seine erstaunliche Vermutung,
"dass es perfekte Gerechtigkeit wahrscheinlich nur in der Hölle gibt,"
dort bald selbst überprüfen kann, das wünschen wir ihm dennoch nicht.

25. November 2006

Funktionsverbgefüge auf dem Bau

Bevor der Polier am Morgen ins Architektenbüro fuhr, erklärte er uns, heute würden einige Presslufthämmer "zum Einsatz kommen". Er verabschiedete sich und wir kletterten erfreut auf ein Gerüst und warteten.

Am Nachmittag kam der Polier zurück und sah fassungslos wie wir gelangweilt rumsaßen und keinen Finger gerührt hatten. Er fing an zu toben: "Warum arbeitet ihr nicht?" Ich antwortete: "Wir warten auf die Presslufthämmer! Es ist keiner gekommen!" - "?!? Die liegen auf dem Laster! Ihr..." Hier traf ihn der Schlag; wir riefen den Notarzt, der ihm leider nicht mehr helfen konnte. Der Bau verzögerte sich, weswegen der Investor bald darauf Pleite ging.

Noch heute ist mir ein Rätsel, warum der Polier behauptet hatte, Presslufthämmer würden zum Einsatz kommen.

Auch Airlines haben Mütter


"Mit der Aktion protestieren die Frauen gegen schlechte Behandlung stillender Mütter von Airlines."
(Spiegel Online, 22.11.2006)

Was das Zitat nicht verrät: Von wem bloß wurden die ihre Airlines stillenden Mütter schlecht behandelt?

"Die Reportage Privatdetektive entfällt und wird Morgen um 16:10 Uhr wiederholt."
(ntv, Einblendung, 20.11.2006)

Eine gar nicht gesendete Reportage zu wiederholen, ohne sie erstmal nachzuholen, das traut sich nur ntv.

Typisch deutsch

Neulich bekam ich beim Chinesen nach dem Essen einen Glückskeks. Auf der Verpackung stand auf Englisch zu lesen: "Wheat cookie with a fortune inside. Please remove the slip of paper before eating the cookie." Übersetzt also: "Weizenkeks mit einem Glücksspruch im Innern. Bitte entfernen Sie den Papierstreifen, bevor Sie den Keks essen." Das klingt doch nett. Auf Deutsch stand aber etwas Anderes da, nämlich: "Weizengebäck mit einem Zettel im Innern, der vor dem Verzehr herauszunehmen ist." Keine Bitte, sondern eine Anweisung. Jawohl, Herr Glückskeksfabrikant!

9. Oktober 2006

Kill you

Nordkorea hat heute einen Atomwaffentest durchgeführt. Den Ort der Explosion haben sie anscheinend mit Bedacht gewählt: Kilju. Ein Gruß an die Amerikaner?

13. September 2006

Deppenleerzeichen

Kaum hat sich der Genitiv-Apostroph bis in die Duden-Grammatik vorgekämpft, überfällt uns schon das nächste Unheil: Das Deppenleerzeichen setzt seinen "Triumph Zug" unbeirrt fort.
Als Linguist interessiert mich daran lediglich, ob sich eine Regelmäßigkeit finden lässt, die erklärt, wann getrennt geschrieben, und wann ein Bindestrich gesetzt wird. Momentan scheint hier Rechtschreibung aber eher Glückssache zu sein:

"Die Idee zu einem schnellen Speicher [...], hatten IBM-Ingenieure schon Anfang der 50er Jahre. Es gelang ihnen aber nicht, die Eisenplatten wirklich plan zu drehen. Im deutschen IBM Labor in Schönaich gelang es schließlich, die Platten mit der nötigen Präzision herzustellen, indem man aus Staubsaugerteilen eine Vakuum-Drehvorrichtung baute." (Heise online)

Solche Normunsicherheiten kennzeichnen Situationen, in denen ein Wandel im vollen Gange ist oder etwas Neues auftaucht. Ein schönes Beispiel ist die Unsicherheit bei der Schreibung des Neuwortes "Handy" in seiner Anfangszeit:

"Die Privaten [...] verfügen über ein stabileres Netz und liefern die handies schneller aus." (taz, 29.3.1993)

"Im Mittelpunkt des Interesses: Handys. [...] Bei eintsprechender Nachfrage und Produktion in großen Stückzahlen können Ende des Jahres die ersten Handies für 1000 Mark zu haben sein." (taz, 31.3.1993)

Die brennende Frage, ob "Handy" oder "handy" bzw. "Handys" oder "Handies" richtig ist, beantwortete der Duden 1996 mit der Aufnahme von "Handy, das, -s" ins Rechtschreibwörterbuch.

Kürzlich glaubte ich, doch eine Leerzeichen-Regel entdeckt zu haben: Nach Fugenelementen steht kein Leerzeichen. Demnach könnte zwar "Stab Hochsprung" irgendwo lauern, aber nicht "Stabs Offizier", "Land Luft" ja, "Lands Knecht" nein. Doch leider stieß ich in dieser vorzüglichen Deppen-Leerzeichensammlung auf den "Urlaubs Check". Pech gehabt.

Wir haben also eine regellose Situation. Wie im Wilden Westen. Nutzen wir's aus! Dann können wir später am Kamin Feuer unsere Enkel mit Gute-Nacht-Geschichten von den wilden alten Zeiten langweilen, in denen man die Tinten Füller noch schwingen konnte, wie's einem passte, und kein Tintenkiller nötig war. Ob in 30 Jahren alle stets brav "Kamin Feuer" oder aber "Kamin-Feuer" schreiben werden, ist doch egal.

Google ist darauf schon vorbereitet: Mit der Anfrage "CIA Gefängnisse" findet man auch alle Seiten, die nur CIA-Gefängnisse enthalten. Der Binde Strich wird von Google nämlich schon längst ignoriert.

11. September 2006

Datums-Denglisch

Im Englischen schreibt man Datumsangaben im Format Monat/Tag/Jahr,
z.B. 9/11/2001 für den 11. September 2001. Für dieses spezielle Datum
hat sich deshalb in den USA und England die Bezeichnung 9/11 oder 9-11 (nine eleven) eingebürgert.
Die eifrigen Journalisten, die mal wieder englische Nachrichten aus dem
Internet abschreiben, um ihre Zeitung vollzukriegen, übernehmen das
natürlich eins zu eins. Schließlich haben sie nicht übersetzen
gelernt, sondern Journalismus (außerdem sind Zahlen sowieso gaaanz
schwierig).
Dadurch verändern sie neben der deutschen Sprache auch die
Geschichte. Mittlerweile findet man viele Artikel, in denen behauptet
wird, die Anschläge auf das World Trade Center hätten nicht am
11.9.2001 stattgefunden, sondern am 9.11.:

"Eine Sammlung offizieller Angaben zum Pentagon und zum Anschlag vom 9.11." (WDR)

"Wir sind aber entsetzt [...] über die Stürzenden vom 9.11.2001. 'Es war, als ob es Menschen regnete ... Du konntest zuschauen, wie sie vom 90 Stockwerk oder so herabfielen', so der Sanitäter Michael Ober." (Telepolis)

"Trotzdem erinnere ich mich [...] wie unsere Leute im und in der Umgebung des World Trade Centers von den Securities und der Polizei runtergemacht wurden, [...] was viele Leute oft als sehr rassistisch empfanden. 9.11. war eine Art von Gerechtigkeit, eine Art 'Wake Up Call'! " (MTV-News)

"Glucksmann vergleicht 9.11. mit Auschwitz und Hiroschima" (Rheinische Post)

Wird bald Heiligabend am 12.24. stattfinden? Die armen Kinder: Freuen
sich das ganze Jahr auf Geschenke, und dann kommt gar kein 24. Monat,
nicht mal ein 13. Das wird ein Geflenne geben!

10. September 2006

Sind die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ausländerfeindlich?

Gestern erzählte mir jemand, er habe zu fortgeschrittener Stunde eine
Busverbindung bei www.bvg.de von der Türkenstraße zur
Reinickendorferstraße gesucht. Aus Jux habe er aber statt "Türkenstr."
"Kanackenstr." eingegeben, weil er dachte, das sei witzig. Fanden die
anderen zwar nicht, aber als dann eine Auswahlliste mit 25
ähnlichen Wörtern erschien, wo tatsächlich die "Türkenstr."
aufgeführt war, wich die Missbilligung allgemeinem Erstaunen.

Ich habe es heute Morgen nachgeprüft. Es stimmt. Nun fragt sich, wie
die BVG dazu kommt, als Korrekturvorschlag zu "Kanackenstr." die
"Türkenstr." zu präsentieren? Befragen sie etwa ein Synonymwörterbuch?
Wenn ja, was für eins? Und was stehen da noch für Sachen drin? Gibt
man "Froschfresser-Str." ein, erscheint dann: "Meinten Sie
Französische Str."? (Nein, erscheint nicht.)

Vielleicht berechnet die BVG bloß die lautliche Ähnlichkeit? Aber
warum sollte unter tausenden Haltestellen in Berlin und Brandenburg
ausgerechnet dieses Paar unter den 25 ähnlichsten sein? Da gibt es
doch bestimmt hunderte ähnlichere zu "Kanackenstr." als "Türkenstr."!

Seltsam ist das schon...

4. September 2006

DNA oder DNS?

Im Deutschen werden die beiden Akronyme "DNA" und "DNS" weitgehend synonym gebraucht. Viele wissen gar nicht, dass beide Ausdrücke dasselbe bedeuten. Was aber ist der Unterschied? Ganz einfach: "DNA" ist englisch, "DNS" ist deutsch. "DNA" ist die Abkürzung für "deoxyribonucleic acid", "DNS" heißt "Desoxyribonukleinsäure". Vielleicht ist "DNS" wegen der schlimmen Buchstabenfolge "NS" so unbeliebt. Außerdem wird der fleißige Fernsehkonsument täglich mit "DNA" konfrontiert, da die Synchronstudios keine Lust haben, bei jeder amerikanischen Billigkrimiserie Biochemie-Experten heranzuziehen, und daher nicht lange fackeln und /Di-än-äi/ mit "DNA" übersetzen.

Im vorigen Jahrhundert

Auf ntv hörte ich neulich den Satz: "Guggenheim begann seine
Kunstsammlung in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts."

Was soll der Zusatz "des vorigen Jahrhunderts"?
Denken sonst alle: in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts?

Demnach bin ich in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts
geboren. Komischerweise bin ich aber noch nicht zu Staub zerfallen
oder als Mumie im Pergamonmuseum ausgestellt. Hört sich nur so an.

Demnächst wird auf irgendeinem Amt wahrscheinlich folgender Dialog
aufgeführt:
"Geburtsjahr?"
"Neunundsechzig."
"Und welches Jahrhundert?"